Wie bereits in vergangenen Jahren, so präsentierte The Lancet Neurology auch 2021 eine Übersicht zu den wichtigsten Neuerungen des Jahres im Bereich der Neurologie. Für die Multiple Sklerose (MS) galt 2021 das Leitthema „Progress against progression“. In der Zusammenfassung wurde berichtet, dass der Fokus der Forschung zunehmend hin zur Erkrankungsentstehung und zur Progression im zentralen Nervensystem geht und damit weniger auf die akute Inflammation abgezielt.
Eine schwedische Registerstudie, die insgesamt 2,5 Millionen Individuen beinhaltete wurde hierbei besonders hervorgehoben. Es zeigte sich, dass Infektion wie z.B. die Mononukleose, das Risiko zur Entstehung einer Multiplen Sklerose relevant erhöhen. Dies ist besonders interessant, da eine neuere, Anfang 2022 in Science veröffentlichte Arbeit, über welche wir bereits berichteten, eine klare Korrelation zwischen EBV-Infektionen und dem Risiko an MS zu erkranken erneut belegt.
Ein weiterer großer Schritt ist gelungen, indem die verschiedenen Bildgebungskonsortien z.B. das Magnetic Resonance Imagine in Multiple Sclerosis (MAGNIMS-Studiengruppe), das Consortium of Multiple Sclerosis Center (SMSC) und die North American Imaging in Multiple Sklerosis Cooperative (NAIMS) 2021 erstmals gemeinsam abgestimmte Diagnosekriterien für die Bildgebung bei MS vorgelegten.
Im Rahmen bildgebender Methoden zeigen sich zudem neue MR-Parameter. Die sog. „ring enhancing leasons“ sind paramagnetische Ringstrukturen in Läsionen. Entscheidend ist hier, dass besonders eisenhaltige Zellen, also Makrophagen/Mikrogliazellen für die Ausbildung dieser Ringstrukturen verantwortlich sind und gezeigt werden konnte, dass die paramagnetischen Ringe eine Halbwertzeit von ca. 7 Jahren haben. Dies befähigt ggf. dazu, diesen Read-Out-Parameter für klinische Studien im Kontext mit „Smoldering Lesions“ zu nutzen.
Unter Therapiestudien stechen besonders die Studien zu Bruton-Tyrosinkinase- (BTK-) Inhibitoren hervor. Hier allen voran Tolebrutinib, wobei sich verschiedene Substanzen der einzelnen Firmen in Phase 1- und 3- Testung befinden. Spannend am Konzept der BTK-Inhibition ist vor allem, dass neben B-Zellen auch myeloide Zellen (z.B. aktivierte Mikrogliazellen) durch das Therapieprinzip moduliert werden. Da es sich bei den BTK-Inhibitoren um small molecules handelt, gibt es auch Hinweise, dass die Substanzen das zentrale Nervensystem erreichen können und so neben einer Modulation der peripheren Inflammation auch einen direkten Einfluss auf neurodegenerative Mechanismen (z.B. Mikrogliazell-vermittelt) haben.
Neue Erkenntnisse zum neuronalen Zelluntergang konnten durch Studien mit Analyse des zerebralen Kortex aus Autopsiematerialien gewonnen werden. Hier zeigt sich der Necroptose Pathway der TNFα vermittelt über den TNFα-Rezeptor 1 und Downstream über sogenannte RIPK1-Kinasen abläuft als besonders interessant.
Trotz all dieser spannenden Neuerungen hat auch 2021 das MS-Feld insbesondere COVID-19 beschäftigt. Hier konnte man bereits 2020 annehmen, dass das männliche Geschlecht, ein höheres Lebensalter, kardiovaskuläre Risikofaktoren und ein hoher BMI mit einem schwereren COVID-19-Verlauf oder gar mit Todesfällen assoziiert sind. Hinsichtlich MS-Patienten bestätigten sich diese Risikoparameter und wurden ergänzt um die körperlichen Einschränkungen. Somit gilt, je stärker ein Patient in seiner Mobilität eingeschränkt ist, desto größer ist das Risiko für einen schweren Verlauf der COVID-19-Erkranung. Darüber hinaus sind zahlreiche Arbeiten mit der Frage entstanden, ob sich Risiken unter erkrankungsmodifizierenden Therapien erhöhen. Hier scheint es eine gewisse Risikokonstellation für B-Zell-depletierende Therapien und S1P-Modulatoren zu geben. In der Konsequenz zeigten Impfstudien aus verschiedenen Ländern, dass sowohl bei der B-Zell-Depletion als auch S1P-Modulatoren der Anstieg an spezifischen Antikörpern nach der Impfung relevant erniedrigt ist. Hinsichtlich der S1P-Modulatoren zeigte sich darüber hinaus, dass auch das T-zelluläre Kompartiment nach Impfung beeinflusst ist.
Als positive Entwicklung hinsichtlich der mRNA-basierten Impfstrategien gab es eine interessante Arbeit, die sich mit einer Impfung gegen Myelin Oligodentrozytenglycoproteinen beschäftigt hat und damit im tierexperimentellen Setting relevant eine MS unterdrücken konnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Bereich der MS-Forschung erneut viele spannende Erkenntnisse ergeben haben und wir auf weitere Entwicklungen für 2022 gespannt sein können.
Quelle:
Multiple sclerosis in 2021: progress against progression, The Lancet Neurology, Volume 21, Issue 1, 12 – 13 (Beck et al.)