In Zusammenarbeit mit Marc Pawlitzki
Die optische Kohärenztomographie (OCT) ist ein nicht-invasives Bildgebungsverfahren, das hochauflösende Querschnittsbilder der Netzhaut erzeugt und sich als bedeutendes Werkzeug zur Messung der Dicke der retinalen Nervenfaserschichten etabliert hat. Seit mehreren Jahren wird dem OCT eine Biomarkerqualität untersteltt, da Veränderungen in den retinalen Schichten als Indikatoren für neurodegenerative Prozesse, wie bei Multipler Sklerose (MS), dienen können. Durch die Analyse dieser Veränderungen lassen sich nicht nur visuelle Beeinträchtigungen besser verstehen, sondern auch Rückschlüsse auf allgemeine degenerative Prozesse im Zentralen Nervensystem und den Krankheitsverlauf ziehen.
Dickenänderungen der inneren Netzhautschichten stehen im Zusammenhang mit entzündlicher Krankheitsaktivität bei MS und können teilweise die Wirksamkeit oder Nicht-Wirksamkeit einer Behandlung aufzeigen.
Bei Patienten mit progressiver MS (PMS) wurde die Netzhautatrophie bisher nur in wenigen Langzeitstudien mit kleinen Patientenzahlen und kurzen Nachbeobachtungszeiträumen untersucht, was zu inkonsistenten Ergebnissen führte. Kürzlich wurde festgestellt, dass die PMS im Vergleich zu schubförmiger MS (RRMS) und gesunden Kontrollen (HCs) unabhängig vom Alter mit einer schnelleren Netzhautverdünnung verbunden ist.
Kombinierte multimodale evozierte Potenziale haben darüber hinaus gezeigt, dass sie die Behinderung bei gemischten RRMS- und PMS-Kohorten vorhersagen können, jedoch wurde der prognostische Wert von visuell evozierten Potenzialen (VEPs) bei PMS bisher nicht in Langzeitstudien untersucht.
Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen dieser Arbeit die Netzhautschichtdicke, Sehschärfe (VA) und VEP-Latenz in Bezug auf die Krankheitsdauer bei Patienten mit RRMS, primär und sekundär progressiver MS (PPMS, SPMS) sowohl quer- als auch längsschnittlich untersucht. Weitere Ziele waren die Analyse der Zusammenhänge zwischen Netzhautschichtdicke, VA und VEP-Latenz sowie deren jeweilige Fähigkeit, klinische und radiologische Krankheitsaktivität und Behinderungsprogression vorherzusagen.
Die Analyse von 2651 OCT-Messungen von 195 RRMS-, 87 SPMS-, 125 PPMS-Patienten und 98 Kontrollen aus fünf deutschen MS-Zentren zeigte, dass Netzhautdegeneration bei allen MS-Subtypen auftrat und die Krankheitsaktivität vorhersagen konnte. Im Detail zeigte die Studie, dass die peripapilläre retinale Nervenfaserschicht (pRNFL) und Ganglionzell-/innere Plexiformschicht (GCIPL) während des Krankheitsverlaufs sowohl bei schubförmiger als auch bei progressiver MS abnahmen, während andere Netzhautschichten ein heterogeneres Atrophiemuster aufwiesen. Die pRNFL-Dickenabnahme war zu Beginn der Krankheit am stärksten und nahm mit längerer Krankheitsdauer ab, während die GCIPL-Atrophieraten sowohl zu Beginn als auch in den späteren Phasen der Krankheit am höchsten waren. Interessanterweise nahm die Dicke der inneren Körnerschicht (INL) nur in den frühen Phasen von PPMS und den späten Phasen von SPMS ab, nicht jedoch bei RRMS.
Im Gegensatz zu den OCT-Messungen korrelierte die Sehschärfe (VA) in keinem MS-Subtyp mit der Krankheitsdauer, während die VEP-Latenz nur bei RRMS mit der Krankheitsdauer assoziiert war. Dies deutet darauf hin, dass die strukturellen Messungen mittels OCT empfindlicher sind für die Erfassung der Auswirkungen der Krankheitsdauer auf die Pathologie des visuellen Systems als die funktionalen Messungen mittels VEP und VA.
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass pRNFL und GCIPL robuste Marker für neuroaxonale Schäden des visuellen Systems im Verlauf der Krankheit sowohl bei schubförmiger als auch bei progressiver MS sind. Jedoch sind longitudinale Bewertungen der Netzhautdicke, wie sie derzeit in der klinischen Routine durchgeführt werden, aufgrund der erheblichen Messvariabilität möglicherweise keine geeigneten Marker für die Progression auf Einzelpatientenebene.