MS-Therapieziel Epstein-Barr-Virus (EBV): wenn Immunzellen Immunzellen jagen…

In Zusammenarbeit mit Orhan Aktas

Wer sich mit den möglichen Ursachen der Multiplen Sklerose (MS) beschäftigt, stößt in der Wissenschaft unweigerlich auf zwei Lager: die eine Seite geht davon aus, dass genetische Faktoren das Risiko bestimmen, ob eine Person eine MS entwickelt. Die andere Seite hält dagegen, dass das MS-Risiko von Umweltbedingungen abhängt, also äußeren Faktoren der unbelebten und belebten Natur (z.B. Sonnenlicht, oder Erreger wie Viren oder Bakterien).

Für beide Seiten gibt es regelmäßig überzeugende und teils spektakuläre (oder spektakulär aufgearbeitete) wissenschaftliche Studien, und aktuell haben wir wieder eine solche Situation – diesmal zugunsten der Umwelttheorie: Anfang 2022 wurde in zwei sehr überzeugenden Studien gezeigt, dass das Epstein-Barr-Virus (EBV) mit dem Risiko für die Entwicklung einer MS eng verknüpft ist. So berichteten Bjornevik et al. in Science, dass bei Erwachsenen die EBV-Infektion dem Ausbruch einer MS vorausgeht, und dass bereits zum Zeitpunkt der EBV-Infektion – lange bevor der erste MS-Schub auftritt – bereits molekulare Zeichen einer Immunattacke gegen das Gehirn nachweisbar sind (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35025605). In einer kurz danach veröffentlichen Nature-Studie von Lanz und Kollegen (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35073561) gelang eine molekulare Erklärung: offensichtlich zeigen Antikörper, die gegen das EBV-Protein EBNA1 gerichtet sind, eine Kreuzreaktion mit dem Nervensystem, so dass eine fehlgeleitete Immunreaktion gegen das Gehirn gebahnt wird. Diese Antikörper werden wiederum von EBV-infizierten B-Lymphozyten produziert. Für eine solche Schlüsselrolle von EBV existieren zwar schon seit langem Hinweise (z.B. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11192296), aber die aktuellen Studien berücksichtigen auch mögliche Störfaktoren und sind daher als Bestätigung der EBV-Hypothese der MS anzusehen.

Offensichtlich ist das Epstein-Barr-Virus kein notwendiger, aber ein hinreichender Faktor für die Entwicklung einer MS. Denn etwa 95% aller Menschen durchläuft eine EBV-Infektion, und glücklicherweise erkranken nicht alle 95% an einer MS. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: wir kennen praktisch keine MS-Betroffenen, die keine EBV-Infektion hatten. D.h. 100% aller MS-Betroffenen hatte eine EBV-Infektion. Daher liegt es nahe, das EB-Virus auch therapeutisch anzugehen. Hierzu erschien vor kurzem eine Pressemitteilung über eine Studie, bei der Immunzellen umprogrammiert wurden, um EBV-infizierte Immunzellen (wie besagte B-Zellen) im Körper von MS-Betroffenen gezielt zu erkennen und zu eliminieren (https://investors.atarabio.com/news-events/press-releases/detail/269/atara-biotherapeutics-to-host-ebv-and-ms-day). Die als „ATA188“ bezeichneten therapeutischen Immunzellen der Firma Atara wurden als Infusion verabreicht und führten sogar zu einer neurologischen Verbesserung. Solche spannenden Ergebnisse schüren natürlich große Hoffnungen hinsichtlich einer ursächlichen MS-Therapie. Aber noch muss vor verfrühtem Optimismus gewarnt werden, da die Datenlage einfach zu dünn ist. Denn die bisherigen Ergebnisse beruhen auf einer kleinen Phase-I-Studie, bei der 24 Betroffene mit progredienter MS unterschiedliche ATA188-Dosierungen erhielten. Zum Studienende waren noch 18 Betroffene übrig, bei denen dann die günstigen Effekte gezeigt wurden. Allerdings war die Nachbeobachtungsphase mit 15 Monaten vergleichsweise kurz, die Gründe für das Ausscheiden von 6 Patienten (immerhin 25% der Studiengruppe) blieben unklar, und es fehlte eine echte Kontrollgruppe: ohne einen Vergleich mit unbehandelten Patienten – oder mit einer Standardtherapie – fällt es schwer, die geschilderte Besserung als tatsächlichen Therapieeffekt einzuordnen. Denn leider entpuppten sich in der Vergangenheit solche Phase-I-Studienergebnisse allzu häufig als Schwankungen, wie sie bei MS-Betroffenen gerne auftreten. Daher ist bei allem Optimismus abzuwarten, was die Ergebnisse der nun angelaufenen Phase-II-Studie (EMBOLD) erbringen werden: in dieser wird auch eine Placebo-Gruppe berücksichtigt, und die Nachbeobachtungsphase ist auf bis zu fünf Jahre angelegt. Hiernach wird sich zeigen, ob dieser vielversprechende Therapieansatz die Erwartungen erfüllt und eine ursächliche MS-Behandlung möglich ist.