In Zusammenarbeit mit R. Jansen
Das therapeutische Zeitfenster für die intravenöse Lysetherapie sowie eine Vielzahl bestehender Kontraindikationen führen zu einem Anteil von nur 10 % aller Schlaganfallpatienten, die mit dieser Therapie behandelt werden können. Die kathetergestützte Thrombektomie steht wiederum nur Patienten mit Verschlüssen der mittleren und großen hirnversorgenden Arterien zur Verfügung. Damit steht die Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls trotz relevanten Fortschritts in den letzten zwanzig Jahren immer noch nicht allen Schlaganfallpatienten in unseren Notaufnahmen zur Verfügung. Dies führt einerseits zu Frustration bei den Behandlern und andererseits dazu, dass der ischämische Schlaganfall weltweit an dritter Stelle der Behinderungen verursachenden Krankheiten rangiert. 1
Insbesondere die Gruppe der Schlaganfallpatienten mit Verschlüssen kleiner arterieller Gefäße ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion, insbesondere inwieweit diese Gruppe von einer intravenösen Lysetherapie profitiert und ob nicht andere Formen der Blutverdünnung für einen Therapieerfolg von größerer Relevanz sein könnten.2 Dieser Frage ging im Juni dieses Jahres eine chinesische Forschungsgruppe aus Chongqing um Wenjie Zi, Qingwu Yang und den renommierten US-amerikanischen Neurologen Jeffrey Saver im Rahmen einer Publikation im New England Journal of Medicine (NEJM) nach.3 In einer multizentrischen, doppelt verblindeten, randomisierten klinischen Studie wurden 1177 erwachsene Schlaganfallpatienten mit einem Punktewert von mindestens 5 Punkten auf dem National Institutes of Health Stroke Scale (NIHSS) sowie einer Lähmung in mindestens einer Extremität identifiziert, die keinen Verschluss der großen oder mittleren hirnversorgenden Arterien aufwiesen und entweder für eine intravenöse Lysetherapie oder Thrombektomie technisch oder aufgrund von Kontraindikationen nicht in Frage kamen, eine relevante klinische Verschlechterung mit einem Anstieg von mehr als zwei NIHSS-Punkten mit Vorstellung nach mindestens 24 Stunden seit Symptombeginn aufwiesen oder mit einer intravenösen Thrombolyse behandelt wurden und entweder eine klinische Verschlechterung oder keine klinische Besserung zeigten. Im Verhältnis 1:1 wurde die Hälfte der Patienten für zwei Tage nach der Diagnosestellung eines Schlaganfalls entweder mit den Thrombozytenaggregationshemmern Aspirin oder Tirofiban behandelt, gefolgt von einer Aspirin-Monotherapie für weitere 90 Tage. Als Ergebnis zeigte sich ein Prozentsatz an Patienten, die nach 90 Tagen einen Wert von 0 oder 1 auf der modifizierten Rankin-Skala (mRS) aufwiesen (und damit einen sehr guten klinischen Zustand aufwiesen) von 29,1 % in der Tirofiban- und 22,2 % in der Aspirin-Gruppe (bereinigtes Risikoverhältnis, 1,26; 95 % Konfidenzintervall, 1,04 bis 1,53, P=0,02). Die Sterblichkeit war in beiden Gruppen ähnlich (3,8 % in der Tirofiban-Gruppe vs. 2,6 % in der ASS-Gruppe; p=0,12). Die Inzidenz von symptomatischen intrakraniellen Blutungen betrug 1,0 % in der Tirofiban-Gruppe und 0 % in der Aspirin-Gruppe.
Worin liegt nun der Unterschied zwischen Tirofiban und Aspirin, weshalb führte eine solche Studie zu einer Publikation in einem der höchstrangigen klinischen Fachzeitschriften und führen diese Ergebnisse nun zu einer unmittelbaren Handlungskonsequenz in der klinischen Praxis?
Sowohl Tirofiban als auch Aspirin hemmen die Bildung von Blutgerinnseln durch eine Hemmung der Blutplättchen (sogenannte Thrombozytenaggregationshemmer). Aspirin hemmt die Thrombozytenaggregation jedoch bei maximaler Dosierung nur teilweise, was bei akuter Ischämie möglicherweise für einen Schutz gegen eine erneute Blutgerinnselbildung unzureichend sein könnte. Tirofiban könnte hier Abhilfe schaffen: Tirofiban (Handelsname Aggrastat der Firma Merck) ist ein Antagonist des Plättchen-Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptors. Durch die Blockierung des Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptors blockiert Tirofiban den entscheidenden letzten Schritt der Thrombozytenaggregation, nämlich die Bindung von Plasmafibrinogen oder von-Willebrand-Faktor an aktivierte Membranproteine, und verhindert so die Vernetzung der Thrombozyten durch das Fibrinogenmolekül.4 Breiten Einsatz findet Tirofiban bereits bei der Behandlung des akuten Koronarsyndroms. 5
Die Idee, Tirofiban beim ischämischen Schlaganfall einzusetzen, ist keineswegs neu: Die Geschichte von Tirofiban in der Schlaganfalltherapie begann 2010 mit der Arbeit einer Mailänder Forschungsgruppe um G. Torgano. In der Study of Efficacy of Tirofiban in Acute Ischemic Stroke (SETIS)6 wurden Patienten mit akutem Schlaganfall, die nicht für eine intravenöse Lysetherapie geeignet waren, in den folgenden drei Tagen entweder mit ASS oder mit Tirofiban behandelt. Die Studie hatte zwei Endpunkte: Die Reduktion des NIHSS-Scores um ≥4 Punkte innerhalb von 72 Stunden nach Behandlungsbeginn und ein mRS-Score von 0-1 nach 3 Monaten. Die Studie, für die ursprünglich 300 Patienten vorgesehen waren, wurde in einer Zwischenanalyse nach 4 Jahren bei 150 Patienten abgebrochen, da kein Trendunterschied zwischen den beiden Behandlungsgruppen hinsichtlich der neurologischen Verbesserung und des Behinderungsgrades festgestellt werden konnte. Der entscheidende Unterschied zur diesjährigen Studie ist die Dosierung der beiden Thrombozytenaggregationshemmer: Torgano und Kollegen verwendeten höhere Dosierungen der beiden Medikamente (0,6 µg/kg/min Tirofiban für 30 min gefolgt von 0,15 µg/kg/min sowie täglich 300 mg ASS i. v. in der Aspirin-Gruppe). Zi und Kollegen verwendeten die auch in Europa derzeit übliche Dosierung (0,4 µg/kg/min Tirofiban für 30 min gefolgt von 0,1 µg/kg/min Dauerinfusion sowie 100 mg ASS oral in der Aspirin-Gruppe). Eine Metaanalyse aus 2023 von Kaur et al., weist auf eine erhöhte thrombozytenaggregationshemmende Wirkung von intravenöser ASS-Therapie im Vergleich zu einer oralen Einnahme hin.7 Ein weiterer Unterschied besteht in den Einschlusskriterien der Studien: Während in SETIS alle Schlaganfallpatienten innerhalb eines vorgegebenen NIHSS-Scores von 5 – 25 Punkten eingeschlossen wurden, gelten in der vorliegenden Studie die oben genannten strengeren Einschlusskriterien und damit auch zum Teil andere Pathomechanismen. An dieser Stelle soll jedoch auch erwähnt werden, dass in der italienischen Studie in der Tirofiban-Gruppe nach 3 Monaten weniger symptomatische intrakranielle Blutungen (1 % gegenüber 4 % in der Aspirin-Gruppe) beobachtet wurden. Etwa zur gleichen Zeit begann eine deutsche Forschungsgruppe um Mario Siebler vom Universitätsklinikum Düsseldorf mit ihrer Arbeit zum Einsatz von Tirofiban beim ischämischen Schlaganfall. In einer klinischen Studie mit dem Titel:
Safety of Tirofiban in acute Ischemic Stroke: The SaTIS trial, 8 wurden 260 Patienten mit akutem Schlaganfall innerhalb von 3 bis 22 Stunden nach einem ischämischen Schlaganfall ohne Lysetherapie und einem NIHSS-Wert von 4 bis 18 Punkten in einer randomisierten, placebokontrollierten, prospektiven, offenen, multizentrischen Studie entweder mit Tirofiban oder Placebo intravenös über 48 Stunden behandelt. Der primäre Endpunkt war die Rate intrazerebraler Blutungen, die in Verlaufs-CCTs 2 bis 7 Tage nach der Rekrutierung gemessen wurde. Der sekundäre Endpunkt war die klinische Wirksamkeit nach 1 Woche (National Institutes of Health Stroke Scale, modifizierte Rankin-Skala) und nach 5 Monaten (Barthel-Index, modifizierte Rankin-Skala). Die Dosierung von Tirofiban betrug 0,4 µg/kg/min Tirofiban für 30 min, gefolgt von einer kontinuierlichen Infusion von 0,1 µg/kg/min. Als Ergebnis zeigte sich kein Unterschied in den beiden Behandlungsgruppen für intrazerebrale Blutungen (Tirofiban 36 von 120 Patienten; Placebo 33 von 124: OR, 1,18; 95% Konfidenzintervall 0,66 bis 2,06) und die Sterblichkeit der nach 5 Monaten war in der Tirofiban-Gruppe signifikant niedriger (3 von 130 [2,3 %] in der Tirofiban-Gruppe gegenüber 11 von 126 [8,7 %] in der ASS-Gruppe; [OR, 4,05; 95 % Konfidenzintervall 1,1 bis 14,9]). Nach 1 Woche und nach 5 Monaten wurde jedoch kein Unterschied im neurologischen oder funktionellen Outcome gemessen. Damit war der Nachweis einer klinischen Verbesserung durch Tirofiban im Vergleich zu einer ASS-Therapie vorerst nicht erbracht. In die Reihe der negativen Studien reihte sich 2022 die RESCUE-BT-Studie ein, die den Effekt einer Tirofiban-Gabe bei großen Gefäßverschlüssen vor einer Thrombektomie untersuchte und keinen Unterschied hinsichtlich des Behinderungsgrades nach 90 Tagen im Vergleich zu Placebo zeigte.9 Einzig der Efficacy and Safety of Tirofiban in Clinical Patients with acute Ischemic Stroke-Trial (ESCAPIST) im Jahr 2022 aus China verblieb mit positiven Ergebnissen für eine Tirofibantherapie im Vergleich zu ASS bei Patienten mit ischämischem Schlaganfall ohne kardioembolische Genese (gutes klinisches Ergebnis mit 79,1 % gegen 67,8 % nach 90 Tagen [OR 1,80; 95 % CI, 1,12-2,90; p = 0,0155] sowie eine Verbesserung auf der NIHSS nach sieben Tagen mit 3 vs. 5 Punkten [p < 0,0001] und keinem Unterschied in der Rate symptomatischer intrazerebraler Blutungen).10 Ein Hinweis auf eine möglicherweise essenzielle Rolle der Schlaganfallätiologie für das nachfolgende Therapieregime. Der ESCAPIST-Trial war anschließend der Ausgangspunkt für die diesjährige Studie von Zi et al.
Was steht nun einer intravenösen Tirofibantherapie unter den strengen Einschlusskriterien der aktuellen chinesischen Studie bei Schlaganfällen durch verschlossene kleine Arterien im Wege? Neben den gemischten Ergebnissen der vorherigen Studien könnte man als Gegenargument ,,ein Prozent‘‘ nennen. Symptomatische intrakranielle Blutungen traten in der diesjährigen Studie bei 6 von 606 Patienten (1,0 %) in der Tirofiban-Gruppe und bei 0 von 571 Patienten in der Aspirin-Gruppe auf (p = 0,03). In der Tirofiban-Gruppe verstarben 23 von 604 Patienten (3,8 %) und 15 von 567 Patienten (2,6 %) in der Aspirin-Gruppe (bereinigtes Risikoverhältnis, 1,62; 95 % CI, 0,88 bis 2,95; P = 0,12). Darüber hinaus hatten 73% der Patienten kleine Infarkte der tiefen Hirnarterien, eine Infarktätiologie, die in der asiatischen Bevölkerung häufiger vorkommt als in der westlichen.11 Damit ist die Übertragbarkeit auf die gesamte Weltbevölkerung eingeschränkt. Hier sind weitere große prospektive, randomisierte, doppel-verblindete Studien mit anderen Ethnien notwendig, um eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu erzielen.
Zusammenfassend liefert die Arbeit von Zi et al. wichtige Ergebnisse für den Einsatz von Tirofiban beim ischämischen Schlaganfall unter bestimmten Voraussetzungen und gibt uns vielleicht jetzt schon einen Ausblick auf eine zukünftige personalisierte Schlaganfallbehandlung, in der individualisierte sekundärprophylaktische Therapien in Abhängigkeit von Infarktgröße und Pathomechanismen zum Einsatz kommen. Vielleicht ist Tirofiban also der alte Bekannte, an dem wir in einem längeren Gespräch ganz neue Seiten entdecken. Fast so wie ein neuer Freund.
The therapeutic time window for intravenous thrombolysis and a multitude of existing contraindications result in only 10% of all stroke patients being eligible for this treatment. Catheter-assisted thrombectomy, on the other hand, is only available to patients with occlusions in the middle and large brain-feeding arteries. Consequently, despite significant progress in the last twenty years, acute treatment for ischemic stroke is still not accessible to all stroke patients in our emergency departments. This leads to frustration among healthcare providers and contributes to ischemic stroke ranking as the third leading cause of disability worldwide.
We discussed a recent a study conducted on the use of Tirofiban, a medication that inhibits blood clot formation, as a potential treatment for ischemic stroke, specifically in cases where small arteries are blocked. It addresses the challenges associated with the treatment of ischemic strokes, emphasizing that existing therapies such as intravenous thrombolysis and thrombectomy are not suitable for all patients due to strict eligibility criteria.
The study, conducted in China, compared the effectiveness of Tirofiban to that of Aspirin in a specific group of stroke patients. These patients had ischemic strokes caused by small artery blockages and were not eligible for intravenous thrombolysis or thrombectomy due to either technical reasons or contraindications. The study aimed to assess whether Tirofiban could offer a better outcome compared to Aspirin in this particular subgroup of patients.
The results of the study indicated that after 90 days, a higher percentage of patients treated with Tirofiban achieved favorable clinical outcomes compared to those treated with Aspirin. However, it’s essential to note that the Tirofiban group also experienced an increased risk of symptomatic intracranial bleeding. The study raises the possibility of using Tirofiban as a treatment option for ischemic stroke under specific circumstances.
Nevertheless, it’s crucial to acknowledge certain limitations. The study predominantly included patients with small infarctions in the deep brain arteries, which might be more common in Asian populations. Therefore, the generalizability of these findings to a broader population is uncertain. Further research, particularly involving diverse ethnic groups, is necessary to validate these results.
In conclusion, the study by Zi et al. provides valuable insights into the potential use of Tirofiban in treating ischemic stroke in patients with specific characteristics. It underscores the need for personalized stroke treatment approaches, recognizing that a one-size-fits-all strategy may not be suitable for all patients. Nonetheless, more extensive research and clinical trials are required to fully understand the implications and generalizability of these findings in stroke treatment.
1. Feigin, V. L. et al. World Stroke Organization (WSO): Global Stroke Fact Sheet 2022. Int. J. Stroke Off. J. Int. Stroke Soc. 17, 18–29 (2022).
2. Paek, Y. M. et al. Intravenous thrombolysis with tissue-plasminogen activator in small vessel occlusion. J. Clin. Neurosci. Off. J. Neurosurg. Soc. Australas. 64, 134–140 (2019).
3. Zi, W. et al. Tirofiban for Stroke without Large or Medium-Sized Vessel Occlusion. N. Engl. J. Med. 388, 2025–2036 (2023).
4. A Comparison of Aspirin plus Tirofiban with Aspirin plus Heparin for Unstable Angina. N. Engl. J. Med. 338, 1498–1505 (1998).
5. Januzzi, J. L., Snapinn, S. M., DiBattiste, P. M., Jang, I.-K. & Theroux, P. Benefits and Safety of Tirofiban Among Acute Coronary Syndrome Patients With Mild to Moderate Renal Insufficiency. Circulation 105, 2361–2366 (2002).
6. Torgano, G. et al. Effect of intravenous tirofiban and aspirin in reducing short-term and long-term neurologic deficit in patients with ischemic stroke: a double-blind randomized trial. Cerebrovasc. Dis. Basel Switz. 29, 275–281 (2010).
7. Kaur, H. et al. Role of intravenous aspirin versus oral aspirin in the treatment of acute coronary syndrome: Answering a clinical query by systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Indian J. Pharmacol. 55, 133–137 (2023).
8. Siebler, M. et al. Safety of Tirofiban in acute Ischemic Stroke: the SaTIS trial. Stroke 42, 2388–2392 (2011).
9. RESCUE BT Trial Investigators et al. Effect of Intravenous Tirofiban vs Placebo Before Endovascular Thrombectomy on Functional Outcomes in Large Vessel Occlusion Stroke: The RESCUE BT Randomized Clinical Trial. JAMA 328, 543–553 (2022).
10.Han, B. et al. Efficacy and Safety of Tirofiban in Clinical Patients With Acute Ischemic Stroke. Front. Neurol. 12, 785836 (2022).
11. Kim, B. J. & Kim, J. S. Ischemic Stroke Subtype Classification: An Asian Viewpoint. J. Stroke 16, 8–17 (2014).